Chancen und Risiken: Stahlbedarfsprognose 2030
Die europäische Stahlindustrie steht vor einer Zeit des Umbruchs und der Herausforderungen, wie das Update unserer Stahlbedarfsprognose für das Jahr 2030 zeigt. Inmitten der grünen Transformation, durchlebt die europäische Stahlindustrie eine Phase der Unsicherheit, geprägt von geopolitischen Verwerfungen, volatilen Energiepreisen und einem sich deutlichen abschwächenden Wirtschaftswachstum, insbesondere in Europa.
Knapp ein Jahr nach unserer ersten Stahlbedarfsprognose ziehen wir Bilanz und liefern eine aktualisierte Prognose für den globalen und regionalen Stahlbedarf, wobei ein neuer statistischer Ansatz die aktuellen Unsicherheiten besser berücksichtigt. Trotz der insgesamt positiven globalen Wachstumsaussichten deuten die Trends für europäische Stahlunternehmen auf eine zunehmende Wettbewerbsintensität hin, weshalb Effizienzsteigerungen und strategische Anpassungen entscheidend sind, um sich in diesem dynamischen Umfeld zu behaupten.
Dieser Artikel ist wie folgt gegliedert: Sowohl für die weltweite Nachfrage als auch für die Hauptabsatzmärkte für europäischen Stahl reflektieren wir die Ergebnisse unserer letzten Prognose von 2022 im Vergleich zur tatsächlichen Entwicklung der Stahlnachfrage (Apparent Steel Use gemäß der Definition der worldsteel Association) im selben Jahr. Da die aktualisierten Zahlen für das vorherige Kalenderjahr erst im Dezember des Folgejahres im Statistical Steel Book veröffentlicht werden, stehen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels (Mai 2024) noch keine Zahlen für 2023 zur Verfügung. Anschließend wird die Prognose für die jeweiligen Märkte auf Basis der neusten Informationen aktualisiert. Unsere letzte Prognose basierte auf den von uns entwickelten Modellen, welche im Wesentlichen auf makro-ökonomischen Faktoren (z.B. BIP, Bevölkerungswachstum) beruhten. Die zukünftigen Entwicklungsprognosen für diese Faktoren sind jedoch mit hoher Unsicherheit behaftet und somit für eine langfristige Prognose nur bedingt geeignet. Mit dem Update der Prognose verfolgen wir nun einen verbesserten Ansatz: Die Historie zeigt, dass die Nachfrage Jahr für Jahr statistisch signifikant um den langfristigen Trend schwankt, und folglich wird in dem von B&C neu entwickelten Prognosemodell der langfristige Trend der Stahlnachfrage auf Basis statistischer Modelle geschätzt. Unsere Analysen haben ergeben, dass diese Prognose auf Basis des langfristigen Trends dem makro-ökonomischem Ansatz überlegen ist. Ergänzend ermöglichen diese statistischen Modelle eine Aussage zu der Unsicherheit der Prognose, woraus sich eine Abschätzung des Korridors erwartbarer (kurzfristiger) Abweichungen ableiten lässt (99%-Konfidenzintervall).
Weltmodell
Das Jahr 2022 war für die Stahlindustrie, wie für viele andere Industrien, ein schwieriges Jahr. Die weltweite Nachfrage nach Stahl im Jahr 2022 hat sich im Einklang mit unserem initialen Prognosemodell auf das Niveau von 2020 abgeschwächt und liegt bei ca. 1,79 Mrd. t. Der Prognosefehler beträgt damit weniger als 0,5%.
Das von B&C neu entwickelte Modell sagt einen langfristigen Wachstumstrend voraus und prognostiziert eine weltweite Nachfrage von etwa 2,06 Mrd. Tonnen für das Jahr 2030 (siehe Abbildung 1). Dies entspricht einem Wachstum von 8,6 % gegenüber dem Jahr 2022. Die erwartbare Schwankungsbreite (99%-Konfidenzintervall) liegt dabei zwischen 1,91 und 2,22 Mrd. Tonnen. Somit gilt in jedem Fall eine positive Wachstumsprognose für das Jahr 2030. Im Gegensatz zu den letzten Jahren gehen wir davon aus, dass sich das Wachstum in China deutlich verlangsamen wird. Gleichzeitig werden die Regionen Südostasien und Indien weiterwachsen und somit einen wichtigen Beitrag zum zukünftigen globalen Wachstum liefern.
Rückblick makro-ökonomisches Prognosemodell
Die Analyse des tatsächlichen Stahlbedarfs im Vergleich zu den Prognosen unseres makro-ökonomischen Modells zeigt moderate Abweichungen in den Regionen Westeuropa sowie Nordamerika (siehe Abbildung 2). Während Nordamerika im Jahr 2022 ca. 6% hinter der Prognose lag, hat das makro-ökonomisch basierte Prognosemodell den Abschwung der Stahlnachfrage in Westeuropa nahezu perfekt vorhergesagt.
Eine Ausnahme bildet Osteuropa mit einer Abweichung von -15% im Jahr 2022 gegenüber unserer Vorhersage. Ursächlich dafür ist der im Februar 2022 ausgebrochene Krieg in der Ukraine ein nicht vorhersagbarer exogener Schock,der sich massiv negativ in der Stahlnachfrage niedergeschlagen hat.
Neues Prognosemodell
Während die weltweite Stahlnachfrage langfristig positive Wachstumsaussichten aufweist, zeigt der langfristige Trend der Hauptabsatzmärkte für die westeuropäischen Stahlunternehmen, nämlich EU-West, EU-Ost und Nordamerika, ein weniger freundliches Bild: Der gesamte Markt wächst im Vergleichszeitraum mit 7,6% gegenüber dem Jahr 2022 (siehe Abbildung 3) weniger stark als die weltweite Nachfrage (8,6%). Dies wird insbesondere im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt deutlich – gegenüber dem höchsten Wert aus dem Jahr 2018 schrumpft die Marktgröße sogar um 3,2%. Eine genauere Untersuchung der Prognosen für die Hauptabsatzmärkte und mögliche Ursachen der unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Regionen sowie deren mögliche Implikationen für die europäischen Stahlunternehmen werden im Folgenden erläutert.
EU-West
Für Westeuropa zeigt der langfristige Trend einen schwach negativen Verlauf, was mit den generellen Wirtschaftserwartungen, geprägt von den pessimistischen Aussichten für Deutschland als europäischer Wirtschaftsmotor, einhergeht (siehe Abbildung 4). So wird für das Jahr 2030 ein Bedarf von etwa 128 Mio. t prognostiziert: Verglichen mit dem höchsten Wert des letzten Jahrzehnts (2018) bedeutet dies ein Verringerung um ca. 5%, verglichen mit dem schwachen Jahr 2022 jedoch ein Anstieg von ca. 9%. Die Historie zeigt eine große Volatilität, so dass eine kurzfristige Abweichung (99%-Konfidenzintervall) gegenüber dem langfristigen Trend von 25 Mio. t bzw. 19% im Jahr 2030 möglich ist. Zukünftige Abweichungen können verschiedene Ursachen haben: So sind die Entwicklung der Elektromobilität, die Nachfrage aus der Rüstungsindustrie oder auch die Zinskosten und deren Einfluss auf die Baubranche denkbar. Für die westeuropäische Stahlnachfrage bedeutet dies möglicherweise eine Veränderung des Produktportfolios (z.B. höher Bedarf an Elektroband) auf die sich die Unternehmen auch bei der Auslegung der zukünftigen Produktionsinfrastruktur vorbereiten sollten.
EU-Ost
Die Nachfrageprognose für Osteuropa sieht hingegen positiver aus: Es zeigt sich ein starker Wachstumstrend, was durch den enormen wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahrzehnte und dem damit einhergehenden Wohlstandzuwachs basiert (siehe Abbildung 5). Dieser Trend führt bis zum Ende des Jahrzehnts zu einer Nachfrage von 95 Mio. t, was eine Steigerung von knapp 25% gegenüber dem durch Ukraine-Krieg geprägten Jahr 2022 und gegenüber dem höchsten Wert des letzten Jahrzehnts (2019) von ca. 6,5% bedeutet. Selbst unter Berücksichtigung der erwartbaren Schwankungsbreite (99%-Konfidenzintervall) ergibt sich im pessimistischen Fall (untere Grenze) eine Steigerung von über 6% gegenüber 2022. Es gilt jedoch abzuwarten, wie sich die aktuell anhaltenden geopolitischen Spannungen zukünftig auf den Handel auswirken. Ferner ist zu beachten, dass weitere Eskalationen der Lage auch zu einem Strukturbruch im Trendwachstum führen können. Es bleibt aber zu konstatieren, dass Osteuropa einerseits aufgrund der hohen Wachstumsdynamik ein interessanter Markt bleibt, andererseits jedoch die derzeitige geopolitische Lage ein gewisses Risiko birgt.
Nordamerika
Die nordamerikanische Stahlnachfrage weist analog zur westeuropäischen einen schwach negativen langfristigen Trend auf (siehe Abbildung 6). Dieser Trend ist erstaunlich, da er konträr zur prognostizierten wirtschaftlichen Entwicklung verläuft. Dies kann aber unter anderem durch den Strukturwandel von traditionellen, stahlintensiven zu technologieorientierten Branchen begründet werden. Das B&C Prognosemodell zeigt für 2030 eine Nachfrage von 132 Mio. t an. Verglichen mit dem höchsten Wert des letzten Jahrzehnts (2014) bedeutet dies eine Verringerung um ca. 10,7%. Im Unterschied zu Europa lag die Nachfrage im Jahr 2022 jedoch mit 136 Mio. t knapp über dem langfristigen Trend. So hatten Kanada und Mexiko, welche zusammen ~ 28% der Nachfrage in Nordamerika ausmachen, ebenfalls mit Herausforderungen (u.a. hohes Zinsniveau und Inflation) zu kämpfen, aber die starke US-Konjunktur (USA steht für ~70% der nordamerikanischen Nachfrage) kompensierte dieses.
Für die Zukunft bleibt abzuwarten, wie sich der Mitte 2022 in den USA verabschiedete Inflation Reduction Act auf die Nachfrage auswirkt. Die dadurch erzeugten Impulse für die US-Wirtschaft können den US-Markt auch in den nächsten Jahren beleben, Mexiko und Canada mitziehen und so zu einer mittelfristig positiven Abweichung vom langfristigen Trend der B&C Prognose führen. Im Rahmen der statistisch erwartbaren Abweichung (99%-Konfidenzintervall) vom langfristigen Trend sind in diesem Fall sogar Werte in Höhe von etwa 154 Mio. Tonnen möglich. Gleichzeitig bleibt aber auch abzuwarten, wie sich die anhaltend hohe Inflation und die daraus folgende Zins-Reaktion der US-Notenbanken mittelfristig auf die Konjunktur auswirken werden. Derzeit stehen die Zeichen weiterhin positiv, allerdings könnten sich die Aussichten eintrüben, wenn die Erwartungen an baldige Leitzinssenkungen nicht erfüllt werden. Im pessimistischen Fall ist eine Reduktion der Nachfrage auf bis zu 111 Mio. t (99%-Konfidenzintervall) nicht unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz, für die europäische Stahlindustrie bleibt der US-Markt interessant, jedoch mit moderaten Risiken verbunden.
Fazit
Das von B&C neu entwickelte Prognosemodell zeigt, dass sich global betrachtet der positive Wachstumstrend der letzten Jahrzehnte fortsetzt, während sich in den Hauptabsatzmärkten für die europäische Stahlunternehmen eine zunehmende Wettbewerbsintensität abzeichnet. Die regionalen Trends unterscheiden sich jedoch in Westeuropa, Osteuropa und Nordamerika. Während Westeuropa ein leicht negatives Wachstum verzeichnet, zeigt Osteuropa einen starken Aufwärtstrend und somit Chancen für zukünftige Absatzmengen. Allerdings beeinträchtigt der Ukraine-Krieg derzeit dieses Wachstum in Osteuropa und stellt auch ein hohes Risiko dar. Nordamerika hingegen weist in der Prognose ebenfalls einen leichten negativen Trend auf, der jedoch möglicherweise durch wirtschaftliche Impulse in den USA ausgeglichen werden kann. Die Zukunft der europäischen Stahlindustrie bleibt von folgenden wichtigen Faktoren abhängig: geopolitische Entwicklungen, wirtschaftliche Trends und technologische Veränderungen. Trotz der Herausforderungen bieten die globalen Märkte Chancen, die es zu nutzen gilt. Effizienzsteigerungen und strategische Anpassungen sind entscheidend, um in diesem dynamischen Umfeld sowohl regional als auch international zu bestehen.
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